Der Kolonialismus bzw. die weiter andauernde Dekolonisierung trägt weiter zu Ungleichheiten zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden bei.
Während der 1950er, 1960er und 1970er gab es einen langen, chaotischen und oft von Gewalt geprägten Prozess der Dekolonisierung, als Staaten dank anhaltender Widerstandsbewegungen Unabhängigkeit erlangten. Aber es war keinesfalls ein klarer Bruch.
Eliten in den vormals kolonisierten Ländern haben es geschafft, Unmengen an Vermögen anzuhäufen und „die finanziellen Erträge von ihrem Zugang zu einem Stück vom westlichen imperialen Kuchen einzufahren“. So beschreibt es Kehinde Andrews, Professor für Black Studies an der britischen Uni Birmingham. Es gibt in den ehemaligen Kolonien auch eine wachsende Mittelklasse, deren Vermögen darauf basiert, das gleiche System auszunutzen, „das weltweit einen Großteil jener Menschen verarmt hat, die ‚Black and Brown‘ sind“.
Die heutigen Systeme rund um Handel, Steuern, Schulden sowie die Finanz- und Rechtssysteme sind aus dem Kolonialismus erwachsen und helfen, die Souveränität von angeblich unabhängigen Nationen zu verwässern. Eine zentrale Rolle spielen hier Institutionen wie der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank, die dazu beitragen, den Status quo aufrechtzuerhalten.
Durch fehlende Wirtschaftsentwicklung verarmt, hatten viele Staaten nach der Unabhängigkeit zu kämpfen. Der IWF – dessen fünf Gründungsmitglieder die USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Japan waren – stellte Darlehen zur Verfügung. Diese stärkten auch die Agenda der zunehmend neoliberalen westlichen Mächte. Das heißt, sie begrenzten die Möglichkeiten der Länder, die sich Geld borgen mussten, dieses für öffentliche Dienstleistungen auszugeben.
Beispiel Pakistan. Heute kämpft etwa Pakistan mit den Folgen zerstörerischer Fluten und extremen Wetterereignissen, die durch die Klimakrise verstärkt wurden – und die Wirtschaft des Landes befindet sich unterdessen im freien Fall. Im Juli, am Rande eines Staatsschuldenbankrotts (vgl. dazu das Interview mit dem pakistanischen Wissenschaftler Adil Najam in der Ausgabe Südwind-Magazin 3-4/2023), sicherte sich Pakistan eine Rettung vom IWF in der Höhe von 3 Mrd. US-Dollar (2,76 Mrd. Euro), nachdem bereits weitere neue Darlehen bei den Regierungen von China, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten aufgenommen worden waren. Seit 1958 hat Pakistan 22 Vereinbarungen mit dem IWF geschlossen. Seine Schulden allein an diese Organisation erreichten 7,6 Mrd. US-Dollar. IWF-Darlehen werden unter Konditionen vergeben: Pakistan hat auf Drängen des IWF bereits die Kosten in Form von höheren Strompreisen an die Bevölkerung weitergegeben.
„Die politischen Entscheidungen, die vom IWF gefördert werden, haben Pakistans Abhängigkeit und Unsicherheit in den Bereichen Lebensmittel und Energie verschlimmert, Ungleichheiten verschärft und den Trend hin zu einem autoritären Regime verstärkt“, sagt Abdul Khaliq vom Komitee zur Abschaffung Unrechtmäßiger Schulden in Pakistan.
Schuldnerfrage. Aber eigentlich müssen wir die Schuldner woanders suchen. Soziologieprofessorin Gurminder K. Bhambra hat dokumentiert, wie Indien dazu „gezwungen“ wurde, Großbritannien nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg Finanzierungen zur Verfügung zu stellen. Diese wurden später durch Währungsmanipulation und andere Maßnahmen „getilgt“. Bhambra erläutert, dass zwischen 1946 und 1951 die Kolonien dazu verpflichtet waren, rund 250 Millionen britische Pfund (das würde heute, mit Inflationsanpassung, rund 11 bis 14 Mrd. Euro ergeben, Anm.) für den Wiederaufbau Großbritanniens nach dem Krieg zu zahlen.
Laut War on Want, einer Organisation, die sich um die Abschaffung der Armut bemüht, sind seit 1980 ganze 4,6 Billionen US-Dollar an Schuldenzahlungen vom Globalen Süden an den Globalen Norden erfolgt. Die Erlassung von Schulden ist unerlässlich, um die Machtverhältnisse auch nur irgendwie auszugleichen.
Entschädigung statt Hilfe. Die Klimakrise wütet weiter auf dem Planeten. Kapitalismus tötet noch immer. Indigene Völker kämpfen, um ihr Land zurückzuerhalten. In den britischen Überseegebieten – und in anderen Regionen – muss der Dekolonisierungsprozess noch abgeschlossen werden.
Es gibt einen Unterschied zwischen Entschädigung und Hilfe. Letztere basiert auf der Logik, dass es das „Richtige“ ist, Menschen in ärmeren Ländern „zu helfen“. Entschädigungen, so Soziologieprofessorin K. Bhambra, gehen von einer anderen Prämisse aus: „Welche Verantwortung haben wir, Ungleichheiten auszugleichen?“
Das Diktat der Ungleichheit
Die Einleitung zum Bericht zur weltweiten Ungleichheit 2022 (World Inequality Report) hält fest: „Wie Länder die Einkünfte, die sie generieren, unter ihrer nationalen Bevölkerung bzw. weltweit verteilen sollen, wird hitzig diskutiert.“ Es gebe auch keinen Konsens darüber, welche Institutionen es bräuchte, um eine gerechtere Verteilung sicherzustellen, so der Bericht, der Ende 2022 veröffentlicht wurde, weiter.
Das federführend vom französischen Ökonomen Thomas Piketty ins Leben gerufene Projekt sieht sich vor allem als Datensammelstelle, um globale Ungleichheiten sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene messen zu können. Seit 2018 wird jährlich ein Bericht herausgegeben. In diesem wird auf historische Entwicklungen der Ungleichheit hingewiesen, und als Lösung für die Umverteilung werden vor allem steuerliche Maßnahmen untersucht.
Kapitalismus-Kritiker:innen sehen darüber hinaus ein großes Problem darin, dass Institutionen wie Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF) das Bild vom „Armen Süden“, der Hilfe braucht, die er aber zurückzahlen muss, weiter prägen. 1944 wurden beide Institutionen gegründet, um den Wiederaufbau zu erleichtern. So hat etwa Österreich mit Weltbank-Krediten u. a. Wasserkraftwerke gebaut.
Doch sowohl die Weltbank als auch der IWF, der für die Stabilität von Währungen sorgen soll, haben quasi eine Monopolstellung, wenn es um internationale Kreditvergaben geht. Bei der Vergabe können etwa Steuerpolitik-„Empfehlungen“ oder Preisvorgaben für öffentliche Güter auferlegt werden.
Die Institutionen selbst sowie die in ihnen dominierenden Länder des Globalen Nordens sehen solche Auflagen als nötig, um die Stabilität des globalen Finanzsystems zu sichern. Kritiker:innen hingegen fordern neue wirtschaftliche Denkweisen – z. B. solche, die auch das Gemeinwohl miteinbeziehen und sogenannte „Schulden“ von ehemaligen Kolonien als ungerechtfertigt betrachten. Barbara Ottawa
Es gibt zahlreiche Vorstöße für die Entschädigung von Nachkommen von versklavten Menschen und von jenen, die von Kolonialismus betroffen waren. Der Faktor Klima spielt dabei eine essenzielle Rolle, etwa bei der Rückgabe von Land.
Eine der Initiativen, die international große Aufmerksamkeit erhalten haben, kommt von der Caribbean Community (CARICOM). Sie umfasst 15 Staaten sowie fünf britische Überseegebiete als assoziierte Mitglieder. Im Jahr 2013 schufen die CARICOM-Staaten eine „Reparations Commission“, um die Grundlagen für Reparationen ehemaliger Kolonialmächte – sowie „relevanter Institutionen in diesen Ländern“ – an die Menschen in der Karibik zu schaffen.
2014 veröffentlichte die Kommission einen 10-Punkte-Plan, in dem sie ihre Reparationsforderungen darlegte. Dieser beinhaltet eine vollständige, formelle Entschuldigung bei den Nachkommen von indigenen Menschen und versklavten Afrikaner:innen, sowie Unterstützung bei der Weiterentwicklung von Gesundheitssystemen und Bildungseinrichtungen und die Heilung von Traumata, die Kolonialismus verschuldet hat.
Verene Shepherd ist emeritierte Professorin für Geschichte und Geschlechterforschung an der University of the West Indies (UWI) in Mona, Jamaika. Sie ist zudem Ko-Vorsitzende der CARICOM-Kommission. Sie sagt, über Entschädigungen sprechen „nicht nur ein paar wenige Menschen; es ist jetzt eine internationale Bewegung“.
Shepherd betont: „Die Entwicklung von Infrastruktur ist notwendig, um die Armut und die Unterentwicklung, die wir heute sehen, umzukehren – sowie die psychologischen Schäden.“
Königliches Pardon. Im Juli 2023 entschuldigte sich der holländische König Willem-Alexander offiziell für die Rolle der Niederlande in der Sklaverei. Er ist nicht der einzige: Personen, deren Familien direkt vom Sklavenhandel profitiert haben, haben jetzt begonnen, Interesse daran zu zeigen, sich mit dieser Altlast zu beschäftigen. So auch die britische Adelsfamilie Trevelyan, deren Vorfahren mehr als 1.000 Menschen im Karibikstaat Grenada versklavt haben. Anfang 2023 hat sich die Familie entschuldigt und 120.000 US-Dollar in einen Wirtschaftsentwicklungsfonds gezahlt.
Shepherd begrüßt den Schritt. Die Wissenschaftlerin zeigt sich aber besorgt, dass die Aufmerksamkeit, die diesen Nachkommen und ihren Aktivitäten geschenkt wird, Generationen an Arbeit von Schwarzen Aktivist:innen übertönen könnte. Es besteht das Risiko, dass diese „Erben“ als diejenigen in die Geschichte eingehen, die Reparationszahlungen Wirklichkeit werden haben lassen.
Zig Billionen Euro. Ein umfassender Bericht der international tätigen Wirtschaftsberatungsfirma Brattle Group, der im Juni 2023 herausgegeben wurde, schätzt, dass den Nachkommen von Sklaven auf dem amerikanischen Kontinent sowie in der Karibik Reparationszahlungen in der Höhe von rund 100 Billionen Euro zustehen. Die Autor:innen des Berichts weisen deutlich darauf hin, dass dies eine „niedrige Schätzung ist, die auf vorsichtigen Annahmen beruht“.
Shepherd erläutert, dass CARICOM keine Auszahlung an Einzelpersonen vorsieht. Es soll etwas geschaffen werden, von dem jede Person in der Karibik profitieren kann, z. B. durch bessere Infrastruktur und öffentliche Dienstleistungen.
Sie betont: „Manchmal sagen Europäer:innen: ‚Über die Jahre haben wir so viel an Förderungen und Krediten vergeben‘, aber das sind keine Entschädigungen, das ist Hilfe. Wir brauchen keine Hilfe, wir verlangen keine Hilfe. Wir wollen Schadenersatz für das zugefügte Leid.“
Jetzt verstärkt CARICOM den Druck, um ein Treffen mit der britischen Regierung zu erzwingen. Im April hat der britische Premierminister Forderungen nach einer Entschuldigung und Reparationszahlungen für Großbritanniens Rolle im transatlantischen Sklavenhandel zurückgewiesen. „Ich glaube, er muss sich erneut mit der Geschichte des Kolonialismus auseinandersetzen,“ sagt Shepherd dazu.
Der Dekolonisierungsprozess ist noch lange nicht vorbei: Ein wesentlicher Teil davon ist der Versuch, den Schaden, der durch Kolonisation, Imperialismus und Versklavung entstanden ist, aufzuzeigen, rückgängig zu machen und zu reparieren. Weiters müssen die Strukturen, die die Auswirkungen des Kolonialismus weiter fortsetzen, abgebaut werden. In den Worten der Umweltwissenschaftlerin Farhana Sultana (in ihrem Buch „Not Too Late“) ist „Dekolonisierung ein Prozess, kein Ereignis; es ist das ständige Verlernen, um neu zu lernen.“
Amy Hall ist Mit-Herausgeberin unseres britischen Partnermagazins New Internationalist, in dem dieser Artikel zuerst (in der Ausgabe September-Oktober 2023) erschienen ist.
newint.org
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